Seit einiger Zeit schwappt ein neuer Ansatz durch den Dritten Sektor und das Fundraising – der Effektive Altruismus. Die Idee dahinter scheint recht einfach: Ressourcen sollten nur für Projekte und Programme eingesetzt werden, die einen möglichst großen Effekt bzw. Wirkung aufweisen. Alles andere sei eine Verschwendung und Fehlallokation, denn dann ist die Gesamtwirkung nicht optimal. Bei begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen scheint dieser Ansatz durchaus vernünftig. Ist es das aber auch?
Bevor ich mich mit dem Ansatz näher auseinandersetze, seien mit zwei Anmerkungen vorweg gestattet: Natürlich sollten Ressourcen effizient und effektiv eingesetzt werden. Und alle Organisationen, Stiftungen und Sozialunternehmen sollten permanent die Wirkungen ihrer Projekte und Programme evaluieren und diese eventuell anpassen. Auch unbestritten ist, dass es Menschen gibt, denen es bei ihrem Spenden auf die effektive Mittelverwendung ankommt. Die Welt ist bunt und deshalb gibt es unterschiedliche Gebe-Logiken und Motive.
Effektive Projekte
Spricht man mit Anhängern das Effektiven Altruismus, dann wird immer wieder die Geschichte von der Entwurmung der Schulkinder erzählt. Gefragt, welche Intervention den größten Effekt bei der Versorgung von Kindern mit Bildung hat, wird gezeigt, dass durch eine flächendeckende Entwurmung viele Kinder eine Schule besuchen und besser lernen können. Entwurmung ist durch eine einfache Maßnahme – eine Kur mit Tabletten, die nur wenig kosten – möglich. Statt Schulgeld zu bezahlen und Kinder mit Schuluniformen auszustatten, kann hier mit den zur Verfügung stehenden Mittel der größte Effekt erzielt werden.
Werte als Ausgangspunkt
Ich will diesen Zusammenhang gar nicht anzweifeln. Das Problem ist aus meiner Sicht ein anderes: Mit dieser Maßnahme werden Kinder erreicht, die in Städten oder Dörfern leben und deren Eltern sich einen Schulbesuch leisten können. Was ist aber mit den Kindern, denen Eltern sich den Schulbesuch nicht leisten können? Was ist mit den Mädchen, denen weniger Ressourcen zugebilligt und damit eher vom Schulbesuch ausgeschlossen werden? Was ist mit den Kindern, die in Regionen leben, die nicht so einfach mit Tabletten versorgt werden, oder die aus anderen Gründen keinen Zugang zur medizinischen Versorgung haben? Diese Kinder fallen aus dem Blick. Sie werden unter Verweis auf die effiziente Verwendung der Ressourcen weiterhin vom Schulbesuch ausgeschlossen. Pech gehabt. Wir müssen die Mittel schließlich effizient einsetzen.
Denn der Zugang der letzten fünf Prozent der Menschheit zur medizinischen Versorgung ist eben alles andere als effizient. Denn auch hierfür gilt – sie ist pareto-optimal: Für die letzten 10% müssen 90% der Mittel aufgewandt werden. Und am Ende stellt sich die Frage: Ist es gerecht, wenn Menschen an Krankheiten leiden müssen, die für wenige Euro zu behandeln wären? Dürfen wir sie einfach ihrem Schicksal überlassen? Ich persönlich empfinde es als empörende Ungerechtigkeit, dass dies immer noch der Fall ist.
Werte im Zentrum der Zivilgesellschaft
Diese Fragen zeigen schon: In der Zivilgesellschaft geht es in erster Linie um Werte. Es geht um Gerechtigkeit, Solidarität, um körperlich Unversehrtheit und die Freiheit der Rede. Es geht um Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung. Es geht um den Zugang zu Kultur, Bildung und medizinischer Versorgung. Es geht um ein Leben in Würde sowie um den Umgang mit der Natur und allen anderen Geschöpfen.
Hierfür Lösungen zu finden, Projekte und Programme zu entwickeln und Veränderungen zu bewirken, ist die Aufgabe von Organisationen und Unternehmen der Zivilgesellschaft. Dafür treten sie ein. Dafür werden sie unterstützt – von Spender/innen, Ehrenamtlichen und anderen Bereitstellern von Ressourcen. Das ist alles weit weg von der Idee eine effektiven Mittelverwendung.
Ökonomie statt Werte
Damit wird auch deutlich, woraus der ideologische Kern des Effektiven Altruismus besteht: Eine Wertefrage wird umgedeutet in eine ökonomische. Die inhärenten Werte werden gar nicht mehr beachtet. Es geht am Ende nur um Effizienz und Effektivität. Effizienz und Effektivität sind Kategorien, die für Unternehmen zentral sind, denn sie versprechen den größtmöglichen Profit. Im Kern wird also eine ökonomische Logik der Zivilgesellschaft übergestülpt, ohne zu fragen, ob dieser Ansatz für sie überhaupt zielführend ist. Denn es gibt ja eine Reihe guter Gründe, warum Leistungen in unserer Gesellschaft nicht von Unternehmen erbracht und nicht über Märkte distribuiert werden.
Warum Menschen spenden
Aber es gibt noch einen zweiten Punkt, in dem der Effektive Altruismus Zivilgesellschaft nicht versteht. Die Gründe für ein (finanzielles) Engagement liegen für die meisten Menschen nicht in der Mittelverwendung der Organisationen, Stiftungen und Sozialunternehmen. Vielmehr geht es beim Spenden um ganz andere Dinge: Es geht um Werte, um soziale Beziehungen und Netzwerke sowie manchmal auch um sozialen Status. Spenden sind – wie übrigens alle Gaben – in erster Linie symbolische Handlungen.
Menschen drücken mit ihrer Gabe aus, dass sie Werte unterstützen. Sie gehen Beziehungen mit einander ein oder – wenn sie von Menschen aufgefordert werden, mit denen sie schon eine Beziehung haben – verstärken diese. Manche setzen Spenden ein, um einen sozialen Status symbolisch einzunehmen oder weil es für Menschen mit ihrem Status einfach dazugehört zu spenden. Einige spenden offen, um Reputation zu gewinnen, andere geben etwas zurück, das sie zuvor in anderer Form erhalten haben.
Einige wenige verstehen ihre Spende als Investition. Nur dann sind sie auch an der effektiven und effizienten Verwendung ihrer Mittel interessiert.
Schaffung von Sozialkapital
Die mit dem Spenden verbundenen symbolischen Handlungen sind für den Zusammenhalt von Gesellschaften zentral. Denn in der Zivilgesellschaft wird über das Geben etwas hergestellt, was Wissenschaftler Sozialkapital nennen. Ohne Sozialkapital – darüber besteht weitgehend Einigkeit – können Gesellschaften nicht existieren. Sie würden sich auflösen und zerfallen. Und hierin besteht einer der größten Unterschiede zum Markt mit den profitorientierten Unternehmen: Märkte benötigen zum Funktionieren Sozialkapital, ohne dies selbst herstellen zu können. Denn Märkte, das zeigt ein Blick in jedes Ökonomielehrbuch, funktionieren dann am besten, wenn zwischen den Beteiligten keine Beziehungen bestehen. (Natürlich wenden jetzt die Vertriebler unter uns ein, dass sie auch Beziehungen herstellen müssen. Das bestätigt jedoch die These: Sie müssen Beziehungen herstellen, die per se nicht vorhanden sind. Mit anderen Worten: Sie schaffen erst Sozialkapital bevor sie ein Geschäft machen können.)
Effektiver Altruismus geht an der Logik der Zivilgesellschaft vorbei
Und so wird deutlich, dass der Effektive Altruismus fundamentale Logiken der Zivilgesellschaft nicht verstanden hat. Vielmehr wird ein Funktionsprinzip propagiert, das aus der Ökonomie von Unternehmen entnommen ist. Es ist für ein Funktionieren von Unternehmen zentral, läuft aber der Aufgabe einer Zivilgesellschaft – der Diskurs von Werten und das Schaffen von Sozialkapital – diametral entgegen. Und darin zeigt sich die Ideologie hinter dem Ansatz: Die Zivilgesellschaft soll dem Bild der Wirtschaft nachgebildet werden. Dass sie dabei ihren gesellschaftlichen Wert verliert, wird ausgeblendet oder billigend in Kauf genommen.
Am Ende ist es ein weiterer Versuch, schon gescheitertes neoliberales Gedankengut ein weiteres Mal aufzuwärmen und uns aufzutischen. Wir sind im Verständnis unseres Selbst schon weiter.
15 Comments
Lieber Kai! Erstmal besten Dank für Deinen Artikel. Bevor ich ausführlicher antworte, würde ich gerne noch ein paar Verständnisfragen stellen um sicherzugehen, dass ich nichts falsch verstanden habe:
1. Du schreibst, dass Kinder, die durch Entwurmungstabletten die Chance haben zur Schule zu gehen, Eltern haben, die ohnehin schon genug Geld haben um ihre Kinder zur Schule zu schicken. Aber warum gehen die Kinder denn nicht auch ohne diese Intervention oder durch kostenlos zur Verfügung gestellte Schuluniformen oder Stipendien zur Schule? Aus meiner Sicht spielt Armut hier ganz klar eine Rolle. Die Eltern sind eben zu arm um ihren Kindern einen regelmäßigen Schulbesuch zu ermöglichen, weil sie sich auch elementare Dinge wie Entwurmungstabletten oder Schuluniformen nicht leisten können
2. Wenn ich Dich richtig verstehe setzt Du die Entwurmungstabletten explizit in Kontrast zu Maßnahmen, die sich primär an Mädchen wenden. Bist Du Dir in dem Rahmen bewusst, dass das ursprüngliche Paper, aus dem dieser Vergleich stammt, die Entwurmungstabletten mit eben solchen Maßnahmen verglichen hat. Das Ergebnis war, dass Stipendien, die ausschließlich für Mädchen bestimmt waren, 50 Mal weniger Kindern einen Schulbesuch ermöglicht haben. D.h. selbst wenn man ausschließlich Mädchen unterstützen wollte, wäre es viel, viel effektiver auf Entwurmungstabletten zu setzen (https://www.povertyactionlab.org/sites/default/files/publications/2012.3.22-Deworming.pdf).
3. Du schreibst, dass es teurer wäre, noch ärmeren Familien zu helfen. Konkret schreibst Du, dass “für die letzten 10% müssen 90% der Mittel aufgewandt werden”. Wenn ich Dich da richtig verstanden habe, wäre ich an einer Quelle interessiert.
4. Des weiteren schreibst Du, dass Menschen an Krankheiten leiden, die für wenige Euro zu behandeln wären. Denkst Du dabei auch an Ansätze wie Entwurmungstabletten, oder geht es Dir um die teureren Maßnahmen für die noch ärmeren Familien. Wenn Letzteres, könntest Du dann bitte ein Beispiel, im Idealfall mit Quelle, für eine solche Intervention geben?
5. Habe ich Dich richtig verstanden, dass Effektive Altruisten Deiner Meinung nach nicht wertegeleitet sind?
6. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Jemand fragt sich, ob er statt an UNICEF lieber an Deworm The World spenden sollte, weil er glaubt so wahrscheinlich mehr Menschen aus der Armut befreien zu können. Ist das aus Deiner Sicht keine Wertefrage, sondern eine ökonomische Frage? Wenn nein, kannst Du dann ein anderes, konkretes Beispiel für eine Frage geben, die sich Effektive Altruisten Deiner Meinung nach stellen die keine Werte- sondern eine ökonomische Frage ist?
7. Wenn Du von Mittelverwendung der Organisation sprichst, meinst Du dann damit auch die eigentliche Wirkung der Organisation, also die Verbesserung der Lebensumstände der Zielgruppe? Wenn ja, habe ich Dich dann richtig verstanden, dass diese Wirkung als Motivation zum Spenden im Widerspruch zu Werten steht? Wenn ich Dich bei all den Wertefragen richtig verstanden habe, würde mich Deine Definition von Werten interessieren.
Lieber Sebastian Schwieker,
vielen Dank für den Link zu dem Deworming-Programm.
Wie man in dem Paper lesen kann, geht es um „school attandance“, also die Frage, wie viele Stunden Kinder und Jugendliche in der Schule verbringen. Es ist doch völlig klar, dass gesunde Kinder und Jugendliche besser lernen, gesünder aufwachsen und sich besser entwickeln. Insofern werden sie auch mehr Zeit in der Schule verbringen. Und Entwurmung ist vermutlich in den meisten Regionen, in denen Zugang zu Infrastruktur zur Verfügung steht, effizient. Es spricht also überhaupt nichts gegen Entwurmung.
Was nicht untersucht wurde, ist die Frage nach dem Zugang zu Bildung. Denn die Tabletten wurden in Schulen verabreicht. An den Studien konnten also nur Kinder und Jugendliche teilnehmen, die zur Schule gehen konnten.
Ich bin kein Experte für Fragen der Entwicklungspolitik, sondern kann eher etwas über Fundraising sagen. Meine Kenntnisse beziehen sich auf die Dinge, die ich in 20 Jahren von Nonprofit-Organisationen lernen durfte. Aber soweit ich es bisher verstanden habe, gibt es verschiedene Faktoren, die den Zugang zu Bildung oder auch Gesundheit beschränken. Für die Mädchen, die nicht zur Schule gehen können, weil das Geld nicht reicht, macht es sehr wohl einen Unterschied, ob sie ein Stipendium oder Schuluniformen erhalten – wenn dies die begrenzenden Faktoren sind. Und dies ist natürlich aufwendiger und kostenintensiver als eine Entwurmung, die ihnen nicht hilft, wenn das Geld für einen Schulbesuch fehlt.
Interessanterweise zeigen die von Ihnen zitierten Studien meinen Punkt ziemlich genau. Je aufwendiger eine Maßnahme ist, desto weniger zusätzliche Schulstunden sind damit verbunden. Genau dies meint die pareto-optimale Verteilung: Um auch den letzten Kindern einen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, müssen überproportional viele Ressourcen aufgewandt werden. Genau das zeigen die Vergleiche.
Und damit stehen Sie vor einem Werte-Konflikt, den der Ansatz des Effektiven Altruismus nonchalant übergeht: Geht es Ihnen darum, dass alle Kinder einen Zugang zu Bildung bekommen oder setzen Sie auf Entwurmung und erhöhen damit die Stunden, die Kinder und Jugendliche, die zur Schule gehen können, in der Schule verbringen? Dann akzeptieren Sie aber, dass eben einige hinten runterfallen und nicht zur Schule gehen können. Die letzten 5% haben dann halt Pech gehabt. Sie mit Bildung zu versorgen, ist zu teuer. Wollen wir uns diese Sichtweise leisten?
Herzliche Grüße
Kai Fischer
Lieber Kai Fischer!
Nach meiner Lesart ist die klare Aussage des Poverty Action Lab, dass der Grund, warum viele Kinder in extrem armen Regionen Afrikas nicht zu Schule gehen, eben nicht ein Mangel an Schuluniformen oder Stipendien ist, sondern ein ganz grundlegender Mangel an Gesundheitsdienstleistungen. Was nützen mir Schuluniformen oder Stipendien, wenn ich mit Würmern krank daheim bleiben muss?
So oder so muss man sich natürlich immer die Frage stellen, wem man hilft. Beim Effektiven Altruismus wird ständig die Frage gestellt, wo man mit seinen Ressourcen am meisten helfen / Leid vermeiden kann. I.d.R. führt das dazu, dass man Menschen in sehr armen Ländern bevorzugt, da diesen verhältnismäßig einfach zu helfen ist (nicht weil man diese prinzipiell bevorzugt). Es gibt sicherlich Beispiele, wo es extrem aufwendig wäre Menschen in besonderer Not zu helfen (z.B. in Kriegsgebieten). Wenn man sich aufgrund mangelnder Ressourcen dann entscheiden muss, ob man diesen, oder einer viel größeren Zahl sich ebenfalls in Not befindlichen Menschen in leichter zu erreichenden Regionen hilft, dann würden sich Effektive Altruisten, oder zumindest ich, dafür entscheiden lieber mehreren als wenigeren Menschen zu helfen, ganz egal wo sich diese befinden. Nicht zuletzt, da ich nicht wüsste, warum ich deren Leben defakto weniger Wert beimessen sollte als dem Leben anderen Menschen.
Wen das Thema Entwurmung interessiert der empfehle ich neben dem in meinem ursprünglichen Kommentar Paper/Artikel auch noch diesen TED-Talk von Professorin Duflo: https://www.ted.com/talks/esther_duflo_social_experiments_to_fight_poverty.
Lieber Sebastian Schwieker,
das ist eine Frage der Perspektive. Betrachtet man die vielen Kinder und Jugendliche, die in Afrika Zugang zur Schule haben, ist dies sicher richtig. Zum Glück werden es immer weniger Kinder, die überhaupt keinen Zugang haben. Dass denen zu helfen, insgesamt einen geringeren Impact hat, mag so sein. Aber für die Betroffenen ist dies schon ein großer Unterschied.
In dem zweiten Absatz zeigt du sehr deutlich meinen Punkt. Effektiver Altruismus ist eine Wertentscheidung, die man so treffen kann, aber nicht muss. Damit ist der Ansatz nicht besser als jede andere Ansatz, sich zu entscheiden. Ich sehe nicht, worin die Überlegenheit bestehen soll. Dass sich Menschen so entscheiden, ist geschenkt und in meinem ersten Satz eingeräumt. Darüber müssen wir uns nicht auseinandersetzen.
Ich finde übrigens einige Gründe, warum sich Menschen anders entscheiden: Weil es sie bspw. empört, dass einige Menschen überhaupt keine Chance auf Bildung haben, dass Mädchen tendenziell stärker diskriminiert werden oder bestimmte Bevölkerungsgruppen von Buildung ausgeschlossen werden.
Übrigens glaube ich nicht, dass man dem Leben eines Menschen einen Wert beimessen kann. Damit wäre “Wert” auch kein sinnvoller Entscheidungsgrund für eine Förderung oder ein Engagement.
Herzliche Grüße
Kai Fischer
Kai Fischer hat recht. Der Effektive Altruismus eignet sich nicht als allgemeiner Ansatz für eine neue Herangehensweise ans Spenden. Allerdings gibt es eine Zielgruppe, die damit besser erreichbar ist als durch wertebasierte Postulate. Es sind Leute, die in Marktkategorien denken, Altruismus unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten und sich damit durchaus bewusst außerhalb der von Fischer bevorzugten fundamentalen Logiken der Zivilgesellschaft bewegen. Durch die Reduzierung von Beziehungen und Verhaltensweisen auf Aufwand und Nutzen sind sie reich geworden. Wer an ihrem Reichtum teilnehmen will, muss ihre Motivationlage akzeptieren oder auf viel Geld verzichten.
Ich verstehe, glaube ich, wie immer den Gegensatz nicht so ganz 🙂 Die Wertefrage sollte ja in jedem Ansatz am Anfang stehen. Was sehe ich, wertegetrieben als “Übel dieser Welt” an und will es beheben. Wenn ich es als größtes Problem ansehe, dass 10 % der Menschen abgehängt werden muss ich mich damit beschäftigen, wie dies zu beheben ist.
Ich teile aber zwei Sorgen, die hier vorkommen können:
– Vernachlässigung externer Effekte: Im Effektiven Altruismus, gibt es häufig den Ansatz eine Ursache zu behandeln, und das dann möglichst breit zu skalieren. Das kann (sic!) dazu führen, dass externe Effekte die in der jeweiligen Community auftreten nicht wirklich beachtet werden. Ein sehr radikales Beispiel ist das Thema Geburtenkontrolle, dass auch mit Unterstützung von Stiftungen in vielen Ländern propagiert wurde und öfters aus dem Ruder gelaufen ist (Schwerpunkt in bestimmten Bevölkerungsgruppen, Abtreibung von Mädchen, Zwangssterilisierungen…).
– Vernachlässigung von sozialem Kapital: Wie von Kai angemerkt hat auch jede Form von Ehrenamt an sich den angenehmen Nebeneffekt soziale Beziehungen zu schaffen. Dies wird durch eine starke Fokussierung auf Effizienz beeinträchtigt. Wir sehen das z.B. schon jetzt im professioneller werdenden sozialen Sektor. Man muss aber dazusagen, dass insbesondere in der Entwicklungszusammenarbeit und internationalen Stiftungsarbeit, dieser Faktor auch ohne Effektiven Altruismus unter Beschuss ist.
Ich denke der Ansatz des Effektiven Altruismus ist weniger gegensätzlich zur bisherigen Spenden-/Fundraisingpraxis als es der Artikel darstellt.
– Warum Menschen spenden: Warum Menschen spenden unterliegt einem zeitlichen Wandel. Effizienzbetrachtungen werden derzeit für viele Menschen bedeutsamer, wenn es um “Werte, um soziale Beziehungen und Netzwerke sowie manchmal auch um sozialen Status” geht. Viele andere Aspekte dieser Zusammenhänge haben sich in den letzten Jahrzehnten ebenfalls gewandelt. Eben weil Spenden auch “symbolische Handlungen” sind, ergibt sich die individuelle Motivation zu spenden aus dem sozialen Kontext und kann durch neue Konzepte, wie dem Effektiven Altruismus, beeinflusst sein.
– Werte: Der Effektive Altruismus bietet eine Orientierung in der Vielfalt des zivilgesellschaftlichen Engagements. Dabei liefert er Anhaltspunkte, um die schwere Frage zu beantworten “Wem soll ich helfen?” (und damit leider auch immer: Wem helfe ich nicht?). Sich bei der Beantwortung dieser Frage nicht nur auf Intuition, persönliche Empfehlungen usw. zu verlassen, sondern auch Effizienzabschätzungen von Aktionen zu berücksichtigen erfordert eine besonders explizite Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. In diesem Sinne ist der Effektive Altruismus nicht in der Lage “eine ökonomische Logik der Zivilgesellschaft überzustülpen”, sondern bestimmte Teile der Zivilgesellschaft empfinden es als sinnvoll sich (unter anderem) ökonomischer Werkzeuge zu bedienen, wenn sie sich für ihre Werte einsetzen. Für Hinweise auf bessere Werkzeuge, um Aktionen zu identifieren mit denen sich die Anzahl der “empörenden Ungerechtigkeiten” in der Welt schnell reduzieren lässt, ist die EA-Community vermutlich dankbar. (Wenn ein Akteur ökonomische Werkzeuge nutzt, dann bedeutet das nicht automatisch, dass der Akteur “neoliberales Gedankengut aufwärmt” – insbesondere wenn es ein Akteur aus dem Fundraising-Bereich ist.).
Für das gemeinsame Ziel einer besseren Welt sollten wir uns die Impulse des Effektiven Altruismus zu nutze machen. Darin liegt einerseits die Chance neue Gruppen von Menschen zum Spenden zu motivieren und verbreiteten Abwehrmechanismen gegen Spendenbereitschaft mit (relativ) “harten Zahlen” zu begegnen. Andererseits besteht für etablierte Fundraising-Akteure die Chance ihre Position zum “Effizienzgedanken” noch klarer herauszuarbeiten und ihre Strategie – falls gewünscht – mittelfristig anzupassen. Auf Seiten der EA-Forschung stellen sich zahlreiche methodische/technische Herausforderung (Systemkomplexität, Übertragbarkeit,…), die es zu überwinden gilt, wenn der Ansatz für mehr als ein paar Beispielfälle anwendbar sein soll.
Der Artikel spiegelt die Realität wieder, die ich im Großspendenfundraising erlebe.
Super, dass das Thema Effektiver Altruismus hier diskutiert wird, vielen Dank für die Artikel und die sehr interessanten Beiträge.
Ich engagiere mich selbst für ein NGO in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und bin über das Buch ‘Doing good better’ auf EA aufmerksam geworden (Buchvorstellung von Jörg Reschke hier: https://sozialmarketing.de/buch-der-woche-doing-good-better). Ich habe die Hoffnung, dass EA selbst und von EA vorgeschlagene Strategien dabei mithelfen werden extreme Armut von unserer Welt verschwinden zu lassen. Und dann als zweiten Schritt die in den vorgehenden Kommentaren genannten teureren Maßnahmen möglich zu machen. Ich bin somit generell ein EA Fan.
Für mich ist hier der wichtigste Punkt, dass ich unseren Sektor noch sehr großes Potential sehe, viel stärker auf die Wirkung der umgesetzten Maßnahmen zu achten und diese wo immer möglich streng und ehrlich zu messen und transparent zu kommunizieren. Ich hoffe, dies bringt dann direkt mehr Wirkung und Fortschritt aufgrund der gewonnen Effektivität und motiviert auch mehr Menschen, Unternehmen oder Regierungen mehr zu spenden bzw. Mittel zu Verfügung zu stellen.
Soweit ich es sehe bietet phineo.org für den deutschsprachigen Raum hier einen Ansatz der das Element Wirkung ganz in den Vordergrund stellt.
Spannend finde ich auch die beiden Initiativen:
1) http://www.80000hours.org – kostenfreie Karriereberatung die das Ziel hat Jobs zu finden, bei dem die größte Wirkung erzielt werden kann.
2) http://www.givingwhatwecan.org – EA Community in der man sich selbst verpflichten mindestens 10% Deines Lifetime Einkommens zu spenden.
Wer tiefer einstigen und sich die Zeit nehmen mag, hier ein vom Philosophen (und EA Vorreiter) Peter Singer geleiteter online Kurs mit Zertifikat der Princeton University, welcher kostenfrei belegt werden kann: https://www.coursera.org/lecture/altruism/welcome-to-effective-altruism-Lp1R6
Oder auch eine Teilnahme an einer der globalen EA Konferenzen (https://www.eaglobal.org/). Ich war auf der EA global London und u. a. beeindruckt von der großen Anzahl an jungen Leuten (halb so alt aber doppelt so intelligent wie ich;), die EA und unseren Sektor in den kommenden Jahrzehnten voranbringen könnten.
Daneben sehe ich aber ebenfalls Schwachstellen und offene Fragen von EA: was ist mit Maßnahmen die nicht einfach eine Wirkungsmessung erlauben oder oft ist dieses Messen sehr aufwendig und teuer. Auch besteht das Risiko, dass anstelle der Ursachen eines Problems nur die Auswirkungen bearbeitet werden (z. B. Moskitonetze gegen Malaria). Oder die Forderung, dass z. B. all meine Spenden nur an die effektivsten NGOs gehen sollten, und ich somit eigentlich nicht an ein lokales Projekt in Deutschland spenden sollte.
Lieber Kai,
vielen Dank für Deinen Beitrag. Der effektive Altruismus kommt mir fast zynisch daher. Es ist wichtig, dass die Spendenden erfahren wofür ihre Spende mit welchem Aufwand und Effekt eingesetzt werden. Es klingt dann schön und einfach, wenn ich mit 10 Euro 10 Kinder impfen kann oder 100 Kinder entwurmen kann. Wissen wir, ob die Spenden für die Entwurmungsmittel vor Ort nicht zu Teilen an andere gehen, damit die Tabletten überhaupt an den Ort kommen und verteilt werden können. usw.usw.
Hallo Silvia!
Natürlich hat man auch bei den Organisationen die im Rahmen des Effektiven Altruismus empfohlen werden keine 100% Sicherheit, dass nicht Gelder zweckentfremdet werden. Im Verhältnis zu den meisten anderen Organisationen sind sie allerdings deutlich besser evaluiert und ihre Wirksamkeit besser belegt. Als Beispiel sei die Deworm the World Initiative genannt auf die hier wiederholt angespielt wird. Diese wurde von den beiden Wirtschaftsnobelpreisträgern Esther Duflo und Michael Kremer gegründet und basiert auf deren jahrelanger Forschung. In der sehr ausführlichen Untersuchung von GiveWell werden bei der Berechnung der Kosten u.a. auch die Opportunitätskosten der Lehrer etc. eingerechnet. Es handelt sich bei den “weniger als 1 Dollar pro Jahr Entwurmung” (bzw. 67 Cent wenn man es ganz genau nehmen will) also nicht wie sonst im Fundraising üblich um eine reine Marketingzahl, sondern um das Ergebnis aufwendiger Berechnungen mit dem Ziel die wahren Kosten herauszufinden (siehe z.B. hier https://www.givewell.org/charities/deworm-world-initiative und hier https://docs.google.com/spreadsheets/d/1d255LKz11L3V-OgOEns9WvJzpnVeaLTcEP1HD4lC478/edit#gid=472531943).
Perfekt ist das nicht und auch keine objektive Wahrheit, aber ich kenne in der gesamten Non-Profit-Welt keine besseren Evaluierungen, d.h. ich wäre mir bei praktisch jeder anderen Organisation noch unsicherer was mit meiner Spende genau gemacht wird.
Hallo zusammen,
vielen Dank für eure ausführlichen, aber leider für einen “normalen” Menschen ohne wissenschaftliche Ausbildung sehr komplex daherkommenden Ausführungen zu EA. Es scheint mir in manchen Bereichen eine Diskussion unter professionellen Fundraisingfachleuten zu sein, die ich aber trotzdem für mich überlegenswerte Ansätze zu Tage fördert. Manches ist aber, wenn auch wissenschaftlich unterlegt, äußerst banal. Natürlich ist jedem, der einen Teil seines Einkommens spenden möchte, klar, dass er mit seiner Spende an eine bestimmte Person oder Organisation ebenfalls hilfsbedürftigen Dritten seine Hilfe vorenthält. Dieses bedeutet in der Konsequenz oftmals eine Entscheidung über Leben oder Tod (vielleicht kann man hierfür auch den Coronazeiten bekannt gewordenen Begriff der “Triage” verwenden) weiterer Hilfbedürftiger. Ein Dilemma, dessen Beseitigung natürlich keineswegs zu einer Einstellung der freiwilligen Hilfsleistungen führen sollte. Umso mehr spielt eine nachgewiesenermaßen wirtschaftliche Verwendung der vorhandenen Mittel für viele Geber eine entscheidende Rolle. Wenn ich z. B. den “Spendenwettlauf” der verschiedensten Hilfsorganisationen im Falle von Naturkatastrophen beobachte, erheben sich für mich immer wieder erhebliche Zweifel daran. Mir scheint es hierbei meistens auch um Beschaffung von Mitteln für den weiteren Unterhalt dieser Organisationen zu gehen. Ich habe für mich aus diesem Grunde entschieden bis auf weiteres Hilfe nur noch zu leisten, die ich in personam und damit überprüfbar leisten kann. Für eine andere Form finanzieller Hilfen fehlt mir im Moment einfach das Vertrauen in die Integrität der handelnden Institutionen. Vielleicht führen die Überlegungen zum EA, mit denen ich heute zum ersten mal in Berührung gekommen bin, ja zu einer Veränderung meiner Perspektive. Ich werde auf jeden Fall “am Ball” bleiben.
Lieber Kai,
Entwurmungskur vs. Schuluniformen ist ein Beispiel welches sich ausschließlich auf die Schulbildung der betroffenen Kinder konzentriert. “Was ist mit den anderen Kindern?” ist eine berechtigte Frage, hat aber nichts mit den betroffenen Kindern zu tun. Ich sehe nicht, wie das von Ihnen Geschriebene den effektiven Altruismus oder die Entwurmungskur entkräften soll. Diese Kinder fallen nicht aus dem Blick, das Beispiel bezog sich nur auf “Entwurmungskur ist für speziell diese Kinder effektiver als Schuluniformen” was nicht gleichzusetzen ist mit “Entwurmungskur ist effektiver als alle andere Maßnahmen”. Es handelt sich dabei nur um ein Beispiel/eine Metapher um die Gedanken des effektiven Altruismus einem Publikum zu übermitteln.
Lieber Tobias,
es wäre schön. wenn dies so stimmen würde. Denn dann wäre die Studie schon fast sinnlos. Wenn Kinder zur Schule gehen, dann wird Schulgeld bezahlt, Uniformen angeschafft etc. Dass dann “nur” noch Entwurmungskuren einen Effekt haben, ist selbstredend und müsste nicht untersucht werden. Auf dieser Stufe wird Effektiver Altruismus sinnlos und tautologisch.
Die Aussage in der zitierten Studie ist aber eine andere. Die Forscher*innen fragen, wodurch sich die Zahl der besuchten Stunden erhöhen lässt. Und sie können zeigen, dass der größte Effekt sich einstellt, wenn man Kinder entwurmt. Das ist natürlich unbestritten. Allerdings ist diese Forschung – schon was die Forschungsfrage angeht – auf einem Auge blind: Wenn Kinder gar nicht erst zur Schule gehen, helfen ihnen Entwurmungskuren nicht bei der Erhöhung der Stunden, die sie in der Schule sind. Die bleiben bei null.
Mein Punkt ist: Das Problem der Diskriminierung lässt sich so nicht in den Griff bekommen. Hier wirkt das Pareto-Optimum: Schule für die letzten Kinder zu organisieren, kann hochgradig effektiv erfolgen, ist aber immer teuer – teurer als Kinder, die zur Schule gehen, zu entwurmen. Denn 80% der Mittel müssen für die letzten 20% der Kinder eingesetzt werden. Dieser Zielkonflikt basiert auf Werten, nicht auf Effizienz. Und damit erweist sich Effektiver Altuismus als Ideologie, die ihre eigenen blinden Flecken nicht refelktieren kann oder will.
Herzliche Grüße
Kai Fischer