Gute Praxis

Kinderpatenschaften im Zeitalter der Digitalisierung

In der Entwicklungszusammenarbeit ist nichts unumstritten – so blieb auch das Konzept der Kinderpatenschaften nicht von Kritik verschont. Traditionelle Strukturen von Patenschaften haben sich, unter anderem durch die Digitalisierung, gewandelt. Neue und alte Fragen drängen sich dadurch auf: eine aktuelle Betrachtung von Kinderpatenschaften.

„Helfen Sie einem Kind in Not!“ fordert mich mein Desktop auf. Ich soll mich für Geschlecht, Kontinent und Land des Kindes entscheiden. Die Wahl fällt mir nicht leicht. Impulsiv wähle ich Mädchen, Asien, Kambodscha – „Patenkind finden“, Enter. Schon erscheint die 5-Jährige Lika auf meinem Bildschirm. In einem Video sehe ich das Mädchen, wie sie sich in ihrer Landessprache vorstellt. 16 Sekunden beobachte ich die junge Lika, wie sie in der Natur steht und redet. Hinter ihr läuft ein Huhn durch das Bild. Likas Sprache verstehe ich nicht. Unter dem Video werde ich gefragt: „Sie möchten ein anderes Patenkind finden?“ Ich entscheide mich dagegen und scrolle weiter runter. Nun geht es um meine Vorteile:

Keine vertragliche Bindung – Steuerrechtlich absetzbar – Transparenz und Kontrolle

Nur ein Klick und ich kann Likas Patin werden, Enter. Nun geht alles ganz schnell: Monatlichen Hilfsgeldbetrag auswählen, persönliche Daten angeben, Bankverbindung eintragen, jährliche Zusatzspende festlegen – „Patenschaft übernehmen“, Enter?

Online-Patenschaften bei World Vision – digitale Vorteile für Paten

as Online-Patenportal von World Vision Deutschland e.V. stellt seit knapp zwei Jahren eine Ausnahme zwischen den vielen Kinderhilfswerken dar. Informationen zum eigenen Patenkind, Bilder, Videos und Austausch mit anderen Paten sind hier online abrufbar. Seitdem wird von jedem neu registrierten Patenkind ein Video für den Online-Auftritt durch MitarbeiterInnen vor Ort gedreht. Die Leiterin des Online-Marketings bei World Vision Deutschland, Constanze Oelighoff, sieht das technische Alleinstellungsmerkmal des christlichen Hilfswerks als einen großen Schritt in der Weiterentwicklung der Digitalisierung: „Der Pate bekommt viel. Durch das Patenportal kann man sich täglich nochmal Fotos anschauen, manchmal auch Videos aus dem Projektgebiet.“ So schreiben auch Paten auf der Facebook-Seite von World Vision Deutschland e.V.:

„Hallo, ich habe mir gerade die App heruntergeladen und dort ein Video von meinem Patenkind gefunden, das ich im Portal noch nicht gesehen hatte. Toll!“

„Wow, das ist richtig klasse, dass ich meinem Patenkind jetzt Mails schreiben kann! Zum Briefe schreiben war ich nämlich immer zu faul.“

Während der Patenschaft kann der Kontakt also schneller und intensiver sein als zuvor – das bestätigt auch Constanze Oelighoff, die seit der Einführung von Online-Patenportalen drei Mal so viele Nachrichten an Patenkinder auf Seiten der Paten verzeichnet. Wenn der Pate eine E-Mail versendet, wird diese vom Landesprojektbüro übersetzt und an das Patenkind übergeben. Der Leiter des Bereichs Info- und Spendenservice bei der Kindernothilfe e.V., Gerd Heidchen, sieht diesen Vorteil nicht. Für ihn geht dabei das Persönliche eines Briefes verloren. Aber vor allem im informativen Bereich sieht auch Gerd Heidchen technische Chancen und Möglichkeiten – wie etwa bei der digitalen Übermittlung von Daten. Für die Umsetzung sieht sich das Kinderhilfswerk aber technisch noch nicht ganz gewappnet. Trotzdem beäugt Gerd Heidchen Patenschaften im Zeitalter der Digitalisierung allgemein etwas kritisch: „Eine Online-Kommunikation zwischen Kind und Pate streben wir derzeit nicht an. Diese Art der Kommunikation kann sich übel verselbständigen.“

Auf der Suche nach einem Patenkind, online

Ein Kind pro Land und vier Kinder insgesamt – das sind die Limits bei der digitalen Patenkindsuche. Nachdem man sich auf der Website von World Vision vier Kinder per Video angeguckt hat, hört die Auswahl auf. Damit will World Vision verhindern, dass der Charakter eines Online-Katalogs entsteht, erklärt Constanze Oelighoff. Nichtsdestotrotz steht und fällt die Entscheidung für ein Patenkind u. a. mit dem Foto, Video und Vorstellungstext online. Von den ersten Eindrücken kann man sich schlecht lösen. Visuelles als Selektionsgrundlage zu nutzen empfindet Gerd Heidchen als problematisch: „Ein katalogmäßiges Aussuchen per Foto können wir uns nicht vorstellen. Die Kinder erscheinen auf diese Weise sehr schnell als Objekte unserer Hilfe.“ Anstelle von Objektivierung tritt bei World Vision das Argument des „näher dran sein und miterleben“. Auch sieht Constanze Oelighoff einen weiteren Vorteil für Patenkinder, die häufig zuvor noch nie eine Kamera gesehen haben: „Die Kinder werden nach und nach an die digitale Welt herangeführt. Uns ist es wichtig, den Kindern eine Stimme zu geben.“

Die Zugangsvoraussetzungen für Kinder haben sich, laut World Vision, dadurch nicht verändert. Allerdings werden bei den meisten Kinderhilfswerken auch nicht alle Kinder eines Projektgebiets in die Datenbank aufgenommen. Um strukturelle Ungleichheiten möglichst zu verhindern, arbeiten bereits viele Organisationen mit einem neuen Ansatz: Ein großer oder sogar der gesamte Teil des Patenschaftsgeldes fließt in das Projekt und die Gemeinde, in der das Kind lebt. Auch Gerd Heidchen sieht Projektarbeiten vor Ort als den ausschlaggebenden Faktor: „Die Patenschaft ist gar nicht das Mittel zur Armutsbekämpfung. Die Patenschaft schafft eine Verbindung, um den Prozess erlebbar zu machen.“

Grenzen von (Online)-Kinderpatenschaften

Auch die Hilfswerke selbst sehen allgemeine Risiken an dem Konzept der Patenschaft. „Beispielsweise gibt es so viele Kinder, die keine Post von ihren Paten bekommen – das kann Neid produzieren“, erklärt Gerd Heidchen. Auch in Bezug auf die digitale Weiterentwicklung hegt er Zweifel, da die technischen Erwartungen von Videoaufnahmen bis E-Mails sie überfordern könnten. Die digitale Zumutung für Patenkinder sieht Constanze Oelighoff bei World Vision jedoch nicht, da die Kinder einen Ausdruck der E-Mail erhalten und in Form eines Briefes antworten, welcher dann über das Landesbüro per Post an die Paten verschickt wird.

Auf technischer und datenschutzrechtlicher Seite berichtet Constanze Oelighoff jedoch über eine ganz andere Problematik: „Was teilweise eine Herausforderung ist – das System ist sehr komplex und wir müssen viele Daten bearbeiten. Technisch kann es auch mal zu Verwechslungen kommen.“ Irrtümer bei der Zuordnung von Daten gab es schon zuvor bei Kinderhilfswerken, aber die Digitalisierung von Kinderpatenschaften schafft eine neue Ebene an Komplexität und Transparenz. So berichten auch Paten auf der Facebook- Seite von World Vision über Verwechslungen:

„Hallo World Vision Team, heute haben wir Post aus der Mongolei bekommen. Allerdings nicht von unserem Patenkind, sondern von einem anderen.“

Online-Patenportale als Zukunft der Entwicklungshilfe?

„Patenschaft übernehmen“, Enter? Um diese Entscheidung zu treffen, fehlt mir vor allem eins: authentische Einschätzungen und Meinungen der (Hilfs-)Geldempfänger. Eine Beziehung zu einem Kind, dessen kulturellen Hintergrund ich nicht kenne, klingt spannend. Aber helfe ich damit Lika aus Kambodscha wirklich? Bewege ich dadurch Gutes oder bediene ich lediglich meinen augenscheinlichen Altruismus in einer Höhe von 30€ im Monat? Es scheint ein schmaler Grat zwischen der Illusion des virtuellen, näheren Miterlebens und der Realität personalisierter Abhängigkeitsverhältnissen zu sein.

Neue und alte Kritiken über das Konzept der Kinderpatenschaften – angefangen bei neo-kolonialen Strukturen mit Missionierungscharakter über die Objektivierung des Kindes bis zu struktureller Ungleichheit – sagen aber nicht nur etwas über die Kinderhilfswerke, sondern auch über uns alle aus: Warum ist die Unterstützung eines einzelnen Kindes für uns erstrebenswerter als die eines Projektes? Wir wollen in dieser einen Person sehen, dass unser Geld ankommt und auch wirklich jemandem hilft. Einerseits ist dies ein lobenswerter und warmherziger Akt, aber andererseits müssen wir uns alle von der Personalisierung der Entwicklungshilfe sowie der erwarteten Dankbarkeit und Transparenz als Gegenleistung ein Stück weit lösen. Eine Selektion des Hilfsgeldempfängers darf nicht über visuelle Reize geschaffen werden. Die ethische Legitimation bröckelt – um Projekte und Kinder finanziell zu unterstützen, wird mit Aufnahmen von Kindern gelockt. Und: Es funktioniert. Während die Digitalisierung bei der Auswahl des zukünftigen Patenkindes also mit Vorsicht zu genießen ist, kann eine verstärkte (Online-)Kommunikation mit dem Patenkind – bei beidseitigem zwanglosem Interesse – eine Bereicherung sein.

Dennoch: Die Vorteile für Paten überwiegen die der Patenkinder selbst beim Online-Prozess. Spannend bleibt, inwiefern sich der Digitalisierungsprozess in dem Bereich auch zukünftig verstärken wird. Constanze Oelighoff kann sich gut vorstellen, dass andere Hilfswerke ihrem Online-Ansatz bald folgen werden: „Es ist der Lauf der Zeit und eine gute Möglichkeit, näher dran zu sein. Es kommt aber vor allem auf die Vernetzung vor Ort an.“ Noch kann die Kindernothilfe e.V. die personelle Mehrarbeit vor Ort nicht stemmen. Aber selbst wenn es möglich ist – auch in Zukunft will Gerd Heidchen per Brief Kontakt zu seinem Patenkind in Brasilien halten. Constanze Oelighoff hingegen hat die E-Mail-Funktion und das Online-Patenportal für sich und ihr Patenkind aus Malawi entdeckt.

Dieser Artikel steht unter der CC BY-SA-Lizenz und ist zuerst auf politik-digital.de erschienen.

Jana Donat
Author Jana Donat

Jana Donat studiert den transdisziplinären Master der Internationalen Entwicklung an der Universität Wien. Zuvor sammelte sie schon vielseitige redaktionelle Erfahrungen neben und innerhalb ihres Bachelor-Studiums an der TU Dortmund mit journalistisch-politikwissenschaftlichem Fokus. Neben Fragen der journalistischen Ethik beschäftigen sie vor allem Forschung und Debatten rund um soziale Ungleichheit auf globaler Ebene.

Write A Comment

*